Die fristlose Kündigung schwerbehinderter Arbeitnehmer ist mit zahlreichen Spezialfristen versehen. Nur die genaue Kenntnis der ineinander greifenden Fristen des BGB und des SGB IX gewährleisten, dass die Kündigung nicht schon wegen der Nichteinhaltung von Formalia unwirksam ist. In einem aktuellen Urteil des BAG hat ein Arbeitgeber nun genau diese Fristen nicht beachtet und die materiell eindeutige fristlose Kündigung wurde dennoch wegen fehlender Zustimmung des Integrationsamtes von den Gerichten für unwirksam erklärt (BAG, Urt. v. 19.6.2007 – 2 AZR 226/06, NZA 2007, 1153).
Der Sachverhalt der Entscheidung (verkürzt):
Der klagende Arbeitnehmer war seit 1971 als Rettungsassistent bei dem beklagten Arbeitgeber angestellt. Er war zuletzt als so genannter Wachleiter tätig, dem auch die Führung der Schichtpläne oblag. Der Kläger ist anerkannter Schwerbehinderter.
Der Arbeitgeber beantragte wegen des Vorwurfs der Manipulation der Schichtpläne und der Erschleichung von Arbeitsentgelt für nicht geleistete Dienste mit Schreiben vom 11. November 2002, beim Integrationsamt am 14. November 2002 zugegangen, die Zustimmung zur fristlosen Kündigung. In einem vom Prozessbevollmächtigten des Arbeitgebers mit dem zuständigen Mitarbeiter des Integrationsamtes am 28. November 2002 geführten Gesprächs erklärte dieser: „Wir lassen die Sache verfristen“.
Mit Schreiben vom 28. November 2002 – dem Arbeitnehmer am selben Tage zugegangen – kündigte der Arbeitgeber daraufhin das Arbeitsverhältnis fristlos. Mit Schreiben vom 29. November 2002 wies das Integrationsamt die Parteien schriftlich darauf hin, innerhalb der Frist des § 91 Abs. 3 Satz 1 SGB IX sei keine Entscheidung getroffen worden. Das Schreiben hatte auszugsweise folgenden Wortlaut:
„Der BRK Kreisverband A hat mit dem am 14. November 2002 eingegangenen Schreiben die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung des mit Herrn W bestehenden Arbeitsverhältnisses beantragt. Wir haben innerhalb zwei Wochen nach Eingang des Antrages darüber zu entscheiden (§ 91 Abs. 3 Satz 1 SGB IX). Wird innerhalb diese Frist eine Entscheidung nicht getroffen, gilt die Zustimmung Kraft Gesetzes als erteilt (§ 91 Abs. 3 Satz 2 SGB IX). Die Frist zur Entscheidung ist am Donnerstag, den 28. November 2002 abgelaufen. Da innerhalb dieser Frist keine Entscheidung ergangen ist, gilt die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses als erteilt (Zustimmungsfiktion).“
Der Kläger hat Kündigungsschutzklage erhoben. Die Kündigung sei schon wegen der im Kündigungszeitpunkt fehlenden Zustimmung des Integrationsamtes unwirksam. Der Arbeitgeber hätte wirksam erst am 29. November 2002 kündigen können. Der Arbeitgeber hat sich damit verteidigt, dass die Zustimmung des Integrationsamtes bei Ausspruch der Kündigung vorgelegen habe. Das Kündigungsschreiben sei am 28. November 2002 nämlich erst nach der Mitteilung des Integrationsamtes, man werde die Sache verfristen lassen, dem Kläger übergeben worden.
Das Arbeitsgericht hat die Kündigungsschutzklage abgewiesen. Im Berufungsverfahren hat das Landesarbeitsgericht der Klage hingegen stattgegeben. Hiergegen wendet sich die Revision des Arbeitgebers.
Die Entscheidung des BAG:
Die Revision ist unbegründet. Das BAG hat die Entscheidung des LAG bestätigt. Die Klage hatte damit Erfolg.
I. Entscheidung des Integrationsamtes
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann der Arbeitgeber eine außerordentliche Kündigung bereits dann erklären, wenn die Zustimmungsentscheidung vom Integrationsamt im Sinne des § 91 Abs. 3 SGB IX „getroffen“ ist und das Integrationsamt sie dem Arbeitgeber innerhalb der gesetzlichen Zwei-Wochen-Frist mündlich oder fernmündlich bekannt gegeben hat. Anders als bei einer ordentlichen Kündigung bedarf es der Zustellung der schriftlichen Entscheidung des Integrationsamtes vor dem Zugang der Kündigungserklärung nicht. § 91 SGB IX enthält eine von § 88 SGB IX abweichende, speziellere Regelung. Die erforderliche Zustellung an beide Parteien in einer schriftlichen Begründung ist nur insoweit von Bedeutung, als von ihr der Beginn der verwaltungsprozessualen Widerspruchsfrist abhängt.
Hinweis für die Praxis:
So reicht es etwa aus, dass die Zustimmung zur Kündigung durch das Integrationsamt im Verhandlungstermin mündlich erteilt wird. Ab diesem Zeitpunkt ist dann der Arbeitgeber verpflichtet, unverzüglich die Kündigung auszusprechen. Wartet er erst die deutlich später eintreffende schriftliche Begründung dieser bereits getroffenen Entscheidung ab, könnte dies bereits zu einer Fristversäumung führen.
II. Zustimmungsfiktion
Dem Integrationsamt verbleibt bei fristlosen Kündigungen nur ein kurzer Zeitraum von zwei Wochen, um eine Entscheidung zu treffen. Um dem Arbeitgeber Rechtssicherheit und Klarheit darüber zu verschaffen, ob er kündigen kann oder nicht, sieht deshalb § 91 Abs. 3 Satz 2 SGB IX eine Zustimmungsfiktion vor. Wird innerhalb der zweiwöchigen Entscheidungsfrist eine Entscheidung des Integrationsamtes nicht getroffen, gilt die Zustimmung dennoch als erteilt. Im vorliegenden Fall ging der Antrag auf Zustimmung zur fristlosen Kündigung bei dem Integrationsamt am 14. November 2002 ein. Die zweiwöchige Entscheidungsfrist des Integrationsamtes lief damit am 28. November 2002 um Mitternacht ab.
Hinweis für die Praxis:
Trifft das Integrationsamt keine Entscheidung, greift also die Zustimmungsfiktion. Mit Eintritt der Fiktion muss der Arbeitgeber die Kündigung unverzüglich aussprechen. Im vorliegenden Fall war dies der 29. November 2002. Auch hier gilt: Die Zustimmungsfiktion tritt Kraft Gesetzes ein. Der Arbeitgeber muss deshalb sofort tätig werden. Ein Zuwarten auf die schriftliche Mitteilung des Integrationsamtes über den Eintritt der Zustimmungsfiktion wäre schädlich, denn dann würde die Kündigung nicht mehr unverzüglich ausgesprochen worden sein.
III. „Wir lassen die Sache verfristen“
Im vorliegenden Fall bestand die Besonderheit darin, dass der zuständige Sachbearbeiter des Integrationsamtes in einem Telefonat noch am 28. November 2002, also dem letzten Tag der Entscheidungsfrist vor Eintritt der Zustimmungsfiktion, erklärte: „Wir lassen die Sache verfristen.“ Der Arbeitgeber wertete diese Mitteilung als abschließende Entscheidung und sprach dann noch am 28. November 2002, dem Arbeitnehmer unstreitig am selben Tage zugegangen, die fristlose Kündigung aus.
Nach Auffassung des BAG war dies ein Fehler. Die Mitteilung des Sachbearbeiters beinhaltete lediglich den Hinweis darauf, dass man die Zustimmungsfiktion eintreten lasse. Damit wurde gerade keine zustimmende Entscheidung „getroffen“. Bestätigt wurde dies durch das oben im Wortlaut wiedergegebene Schreiben des Integrationsamtes in dem bekannt gegeben wurde, dass innerhalb der Frist des § 91 Abs. 3 SGB IX keine Entscheidung getroffen worden ist und deshalb mit Fristablauf die Fiktion einer Zustimmung eingetreten ist.
Damit hat der Arbeitgeber die Kündigung einen Tag zu früh (!) ausgesprochen. Die Zustimmungsfiktion ist erst am 28. November 2002 um Mitternacht eingetreten. Der Arbeitgeber hat aber schon am 28. im Laufe des Tages die Kündigung zugestellt. Wegen des Eintritts der Fiktion erst um Mitternacht hätte die Kündigung aber erst nach Mitternacht am 29. November 2002 erstmals wirksam zugestellt werden können. Die Kündigung wurde damit ohne vorherige Zustimmung erklärt. Dies führt, unabhängig von der Wirksamkeit der materiellen Kündigungsgründe, zur Rechtsunwirksamkeit der Kündigung.
Hinweis für die Praxis:
Die Entscheidung macht deutlich, wie sehr es im Schwerbehindertenrecht auf die Einhaltung von Fristen ankommt. Werden die formalen Fristen nicht eingehalten, ist die Kündigung regelmäßig rechtsunwirksam. Eine erneute fristlose Kündigung kann dann grundsätzlich nicht mehr ausgesprochen werden, auch wenn die Kündigungsgründe noch so offensichtlich sind, denn wenn die zweiwöchige Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB einmal abgelaufen ist, kommt nur noch eine ordentliche Kündigung in Betracht.
Auszeichnungen
-
TOP-Wirtschaftskanzlei für Arbeitsrecht(FOCUS SPEZIAL 2024, 2023, 2022, 2021, 2020)
-
TOP-Kanzlei für Arbeitsrecht(WirtschaftsWoche 2023, 2022, 2021, 2020)
-
TOP-Anwältin für Arbeitsrecht: Ebba Herfs-Röttgen(WirtschaftsWoche, 2023, 2022, 2021, 2020)
-
TOP-Anwalt für Arbeitsrecht: Prof. Dr. Nicolai Besgen(WirtschaftsWoche 2023, 2020)
Autor
UNVERBINDLICHE KONTAKTAUFNAHME
UNVERBINDLICHE KONTAKTAUFNAHME
Sind Sie unsicher, ob Sie mit Ihrer Angelegenheit bei uns richtig sind?
Nehmen Sie gerne unverbindlich Kontakt mit uns auf und schildern uns Ihr Anliegen.
Wir freuen uns auf Ihren Anruf.