30.06.2021 -

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat bekanntlich mit seinem wegweisenden Urteil vom 14. Mai 2019 (C-55/18) die Darlegungslast im Überstundenprozess modifiziert. Die Auswirkungen dieses Urteils sind bis heute streitig. Der Gesetzgeber hat Änderungen für dieses Jahr in Aussicht gestellt. In Literatur und Rechtsprechung gibt es vielfältige Stellungnahmen. Einen neuen Aspekt hat dem nun das Arbeitsgericht Emden in einem jetzt veröffentlichten Urteil hinzugefügt (ArbG Emden v. 24.9.2020, 2 Ca 144/20). Wir möchten hier die sehr umfangreiche Entscheidung nicht im Einzelnen wiedergeben und besprechen, sondern uns auf die Kernaussagen beschränken

Der Fall (verkürzt):

Der Rechtsstreit dreht sich um die Frage, ob einer aus dem Arbeitsverhältnis durch Eigenkündigung ausgeschiedenen Mitarbeiterin noch eine Überstundenvergütung in Höhe von 1.001 Stunden und neun Minuten als Überstundenabgeltung zusteht.

Die Klägerin kündigte das Arbeitsverhältnis fristgerecht zum 31. Dezember 2019. Von ihr wurden mittels einer von dem Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Software „Kommt“-und „Geht“- sowie „Pausen“-Zeiten, die im Wege eines „Autoabzugs“ im Umfang von einer Stunde täglich verrechnet wurden, erfasst.

Die Klägerin behauptet, über die geschuldete Arbeitsleistung hinaus Überstunden im Umfang von 1.001 Stunden und neun Minuten erbracht zu haben.

Der Arbeitgeber hat dem entgegengehalten, dass die Arbeitnehmerin in Form von Vertrauensarbeitszeit beschäftigt gewesen sei. Die Arbeitszeiten waren zwar aufgezeichnet worden, es sei jedoch keine Kontrolle erfolgt. Es habe keine Anweisung zur Leistung von Überstunden gegeben. Der Klägerin sei es vielmehr freigestellt gewesen, etwaige Mehrarbeit durch entsprechende selbst genommene Ausgleichszeiten wieder zu egalisieren. Die Klägerin sei auch zu keinem Zeitpunkt während des Arbeitsverhältnisses bei der Geschäftsführung oder anderweitig vorstellig geworden, um sich entweder bezüglich einer Überbelastung, der vielen Arbeit oder etwaiger ausufernder Arbeitszeiten zu beschweren. Die Klägerin habe auch zu keinem Zeitpunkt die Auszahlung von Überstunden oder das abbummeln von Überstunden eingefordert, da ihr die Absprache bewusst gewesen sei, dass sie selbst für einen Abbau sorgen müsse und dass ihr diese Freiheit eingeräumt worden sei. Es fehle somit bereits an einer Anordnung der Überstunden. Ausdrücklich habe es keine Anordnung, Duldung oder Billigung etwaiger Überstunden gegeben.

Die Entscheidung:

Das Arbeitsgericht Emden hat dem Zahlungsanspruch der Klägerin in Höhe von 20.235,16 € brutto nebst Zinsen in vollem Umfange über 1.001 Überstunden und neun Minuten stattgegeben.

Dazu hat das Arbeitsgericht folgende Leitsätze festgestellt.

1. Möglichkeit der Kenntnis durch den Arbeitgeber ausreichend

Durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 14. Mai 2019 wird die Darlegungslast im Überstundenprozess modifiziert. Die vom Bundesarbeitsgericht bislang geforderte – positive – Kenntnis als Voraussetzung für eine „Duldung“ der Leistung etwaiger Überstunden und damit für eine Zurechenbarkeit bzw. arbeitgeberseitige Veranlassung ist infolge des genannten Urteils des EuGH jedenfalls dann nicht erforderlich, wenn die Arbeitgeberin sich die Kenntnis der Arbeitszeiten der Arbeitnehmerin durch Einsichtnahme in die Arbeitszeiterfassung, zu deren Einführung, Überwachung und Kontrolle die Arbeitgeberin verpflichtet ist, hätte verschaffen können.

2. Vergütungsrechtliche Folgen

Dem Einwand, Folgerungen für vergütungsrechtliche Fragen könnten sich aus dem Urteil des EuGH vom 14. Mai 2019 nicht ergeben, weil die Europäische Union in vergütungsrechtlichen Fragen keine Regelungskompetenz habe, ist nicht zu folgen.

3. Arbeitszeitaufzeichnungen

Arbeitszeitaufzeichnungen, die (jedenfalls in erster Linie) den Zweck haben, die Einhaltung der arbeitszeitrechtlichen Vorschriften zu dokumentieren und zu überwachen, können auch vergütungsrechtliche Bedeutung entfalten.

4. Vergütungspflichtige Arbeitszeit

Im Regelfall ist von einer Deckungsgleichzeit der arbeitszeitrechtlich dokumentierten sowie der vergütungspflichtigen Arbeitszeit auszugehen. Die in Erfüllung arbeitszeitrechtlicher Vorgaben angefertigte Dokumentation von Arbeitszeiten wird, von besonders gelagerten und zu begründenden Ausnahmefällen abgesehen, regelmäßig ein aussagekräftiges Indiz dahingehend darstellen, dass während der dokumentierten Arbeitszeit auch tatsächlich gearbeitet worden ist.

5. Anwendung § 618 BGB

Insbesondere aus § 618 Abs. 1 BGB folgt in europarechtskonformer Auslegung eine arbeitgeberseitige Verpflichtung zur Messung, Aufzeichnung und Kontrolle der Arbeitszeiten der Arbeitnehmer. Hilfsweise besteht eine entsprechende vertragliche Nebenpflicht jedenfalls gem. § 241 Abs. 2 BGB.

6. Vertrauensarbeitszeit

Die Vereinbarung sogenannter „Vertrauensarbeitszeit“ schließt die arbeitgeberseitige Veranlassung in Form einer Duldung von Überstunden nicht aus. Auch schließt sie nicht die Abgeltung von Überstunden aus. Schließlich beseitigt eine solche Vereinbarung nicht die arbeitgeberseitige Verpflichtung zur Aufzeichnung und Kontrolle der Arbeitszeiten. Eine Vereinbarung, die auf den Versuch hinausläuft, die in europarechtskonformer Auslegung des § 618 BGB hergeleitete Verpflichtung der Arbeitgeberin zur Erfassung und Kontrolle der Arbeitszeiten zu beseitigen, ist gem. § 619 BGB nichtig.

Fazit:

In der Literatur wird damit bereits das Ende der Vertrauensarbeitszeit angekündigt. Das BAG fordert bislang positive Kenntnis von Überstunden. Nach dieser Rechtsprechung des Arbeitsgerichts Emden ist dies nicht mehr notwendig. Erfasste Arbeitszeiten können vom Arbeitgeber kontrolliert werden. Schreitet er dann nicht ein, folgt hieraus bereits die notwendige Duldung. Das Urteil ist noch eine Einzelfallentscheidung. Möchte man sich jedoch umfassend absichern, sollte man vorhandene Arbeitszeiten kontrollieren und Überstunden ausdrücklich widersprechen oder klarstellen, dass diese nicht geduldet werden. Hilfreich ist sicherlich auch die Vereinbarung von Verfall- bzw. Ausschlussfristen, die eine unbegrenzte Ansammlung bis hin zur Verjährung vermeiden. Wir werden über die weitere Entwicklung zu dieser wichtigen Thematik berichten.

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