Nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EuGHMR) verstößt das deutsche Nichtehelichengesetz vom 19.08.1969, welches Kinder, die vor dem 01.07.1949 nichtehelich geboren wurden, von der gesetzlichen Erbfolge ausschließt, gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 14 i.V.m. Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
Der Fall:
Eine 1948 geborene nichteheliche Tochter eines im Jahre 1998 verstorbenen Vaters machte Erbansprüche geltend. Nichteheliche Kinder, die vor dem 01.07.1949 geboren sind, sind jedoch nach dem Nichtehelichengesetz vom 19.08.1969 von der Erbfolge ausgeschlossen. Der Vater hatte die Vaterschaft für seine Tochter anerkannt und hielt mit dieser ständigen Kontakt. Sie war das einzige Kind ihres Vaters. Er hatte zum Todeszeitpunkt weder Eltern noch Geschwister. Damit kamen nach der gesetzlichen Erbfolge Erben der dritten Ordnung zum Zuge, die das Nachlassgericht nur unter größten Mühen ermitteln konnte und mit denen der Erblasser keinen Kontakt hatte.
Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits im Jahr 1976 die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung festgestellt. Der Stichtag sei wegen der praktischen Schwierigkeiten bei der Feststellung der Vaterschaft zu vor diesem Zeitpunkt geborenen Kindern gerechtfertigt. Der Gesetzgeber habe damit zugleich dem Widerstand eines Teiles der Öffentlichkeit gegen die Gleichstellung nichtehelicher Kinder sowie dem Vertrauen des Erblassers und seiner Angehörigen auf die Fortgeltung der alten Rechtslage Rechnung getragen. Diese Rechtsprechung hatte es im Jahre 1996 anlässlich der Wiedervereinigung auch für auf dem Gebiet der damaligen DDR geborene Kinder bestätigt. Mit ähnlichen Argumenten verteidigte sich nun die Bundesregierung vor dem EuGHMR.
Die Entscheidung des EuGHMR
Der EuGHMR erblickt in der Regelung des Nichtehelichengesetzes, welche nichteheliche Kinder, die vor dem 01.07.1949 geboren sind, pauschal von der Erbfolge ausschließt, einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK in Verbindung mit Art. 8 EMRK (Schutz des Familienlebens).
Der EuGHMR erkennt allerdings an, dass die bundesverfassungsgerichtliche Entscheidung aus dem Jahr 1976 auf objektiven Gründen beruhte. Damals hätten tatsächlich praktische Schwierigkeiten bei der Feststellung der Vaterschaft bestanden und eine breite Öffentlichkeit hätte sich gegen die Gleichstellung der nichtehelichen Kinder ausgesprochen. Diese Verhältnisse hätten sich allerdings inzwischen geändert. Der Nachweis der Vaterschaft sei im Zeitalter der DNA-Tests unproblematisch und sicher führbar. Die Wahrnehmung nichtehelicher Kinder in Deutschland habe sich nicht zuletzt aufgrund der Wiedervereinigung grundlegend geändert.
Die gesetzgeberischen Ziele, die Rechtssicherheit zu wahren und das Vertrauen des Erblassers und seiner Familie in den Fortbestand der gesetzlichen Regelung zu schützen, seien zwar im Grundsatz legitim, die eingesetzten Mittel müssten jedoch zu dem angestrebten Zweck in einem angemessenen Verhältnis stehen. Die Verhältnismäßigkeit sei aber jedenfalls in diesem Einzelfall nicht gegeben. Der Vater habe die Tochter anerkannt und eine familiäre Bindung mit ihr aufgebaut. Er habe keine sonstigen nahen Verwandten hinterlassen. Die Erwartung entfernter Verwandter, etwas zu erben, sei nicht schützenswert.
Anmerkung:
Die Entscheidung der EuGHMR hat keine unmittelbare Wirkung auf die deutsche Rechtslage. Der Gesetzgeber muss also zunächst tätig werden, um Erbansprüche der betroffenen Personen zu begründen. In welcher Weise dies geschehen wird, ist offen. Angesichts dessen, dass der EuGHMR die gesetzgeberischen Ziele der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes grundsätzlich anerkennt, steht kaum zu erwarten, dass die Möglichkeit geschaffen wird, bereits abgeschlossene Erbfälle wieder aufzurollen. Eine Änderung der Rechtslage für die Zukunft ist aber durchaus zu erwarten. Ob der Gesetzgeber schlicht allen vor dem 01.07.1949 geborenen nichtehelichen Kindern ein Erbrecht einräumen wird oder ob er dieses Erbrecht von der tatsächlichen familiären Bindung zwischen Erblasser und potentiellen Erben und den sonstigen Familienverhältnissen abhängig machen wird, bleibt abzuwarten.
Verfasserin: Dr. Susanne Sachs, Rechtsanwältin mit Schwerpunkt Erbrecht, MEYER-KÖRING – Büro Bonn
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