17.10.2012 -

Das BAG hat sich in einem weitreichenden Grundsatzurteil mit Entschädigungsansprüchen von schwerbehinderten Menschen im Bewerbungsverfahren befasst (BAG, Urteil v. 13.10.2011 – 8 AZR 608/10). In den Vorinstanzen wurden Ansprüche des Bewerbers abgelehnt. Das BAG hat die Ansprüche hingegen bejaht und die Haftung von Arbeitgebern weiter verschärft. Die wichtige Entscheidung möchten wir daher nachfolgend im Einzelnen vorstellen.

Der Fall:

Der 1964 geborene Kläger absolvierte zahlreiche Ausbildungen. Zunächst zum Großhandelskaufmann, dann zum Diplombetriebswirt FH, eine weitere Berufsausbildung als chemisch-technischer Assistent, schließlich ein Studium für den gehobenen Verwaltungsdienst, das er mit der Gesamtnote „befriedigend“ abschloss. Im Hauptstudium belegte er das Fach „Wirtschaft“ und das Wahlpflichtfach „Rechnungswesen“.

Er ist im Besitz eines Schwerbehindertenausweises mit einem GdB von 60.

Die beklagte Gemeinde beschäftigt in ihrer Verwaltung auf 8 Stellen 12 Arbeitnehmer. Im Sommer 2009 schrieb die Gemeinde eine Stelle für einen Mitarbeiter im Bereich Personalwesen, Bauleitplanung, Liegenschaften und Ordnungsamt zur Mutterschaftsvertretung aus. Für dieses Aufgabengebiet suchte die Beklagte einen Mitarbeiter mit der Qualifikation des gehobenen nicht technischen Verwaltungsdienstes mit umfassenden Kenntnissen.

Der Kläger hatte sich bereits mehrfach erfolglos im öffentlichen Dienst beworben. Nachdem er anfänglich in dem Bewerbungsschreiben auf seine Schwerbehinderteneigenschaft hingewiesen hatte, entschloss er sich wegen der Erfolglosigkeit seiner Bewerbungen ab einem bestimmten Zeitpunkt, nur noch den Hinweis auf eine „Behinderung“ zu geben. Mit Schreiben vom 08.07.2009 bewarb sich der Kläger um die ausgeschriebene Stelle der Beklagten. Am Ende des Bewerbungsschreibens führte er aus: „Durch meine Behinderung bin ich, insbesondere im Verwaltungsbereich, nicht eingeschränkt.“ Bei der beklagten Gemeinde bearbeitete eine Beschäftigte das Bewerbungsverfahren, die den Kläger vom gemeinsamen Besuch der Fachhochschule her flüchtig kannte. Sie hatte dabei den Eindruck gewonnen, dass sich der Kläger anderen Studentinnen und Studenten aufdränge. Davon unterrichtete sie den Bürgermeister der Beklagten, der sich daraufhin gegen eine Berücksichtigung des Klägers entschied. Die Beklagte nahm keine Verbindung mit der Agentur für Arbeit auf und prüfte nicht, ob die ausgeschriebene Stelle mit schwerbehinderten Menschen, insbesondere mit bei der Agentur für Arbeit arbeitslos oder arbeitssuchend gemeldeten schwerbehinderten Menschen besetzt werden könne.

Im weiteren Verlauf des Bewerbungsverfahrens wurden zwei der ca. zehn Bewerber dem Gemeinderat vorgestellt. Eingestellt wurde schließlich eine Mitarbeiterin, die ihr Staatsexamen mit 8 Punkten bestanden hatte und während des Hauptstudiums den Bereich „Verwaltung“ und das Schwerpunktfach „Kommunalpolitik“ gewählt hatte. Unter dem 30. Juli 2009 sagte die Beklagte dem Kläger schriftlich ab.

Im Folgenden machte der Kläger fristgerecht Entschädigungsansprüche nach § 15 AGG geltend. Er begehrte eine Entschädigung in Höhe von drei Bruttomonatsgehältern bzw. 6.689,50 €. Die Gemeinde verwies darauf, dass wegen offensichtlich fehlender fachlicher Eignung eine Einladung zum Vorstellungsgespräch entbehrlich gewesen sei.

Der Kläger machte daraufhin seine Ansprüche beim Arbeitsgericht geltend. Zum Zeitpunkt der Berufungsverhandlung betrieb der Kläger in mindestens 27 weiteren Fällen Entschädigungsklagen gegen öffentlich-rechtliche Gebietskörperschaften.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Im Berufungsverfahren hat das LAG ebenfalls Ansprüche des Klägers zurückgewiesen.

Die Entscheidung:

Das BAG hat in der Revision die Ansprüche des Klägers bejaht und dem Grunde nach einen Anspruch auf Entschädigung zugesprochen. Der Rechtsstreit wurde aber zur nochmaligen Verhandlung an das LAG wegen notwendiger weiterer Aufklärung des Sachverhalts zurückgewiesen.

I. Fristen

Entschädigungsansprüche nach dem AGG können nur in engen zeitlichen Grenzen, die hier eingehalten wurden, geltend gemacht werden. Nach § 15 Abs. 4 S. 1 AGG muss ein Anspruch innerhalb einer Frist von zwei Monaten schriftlich geltend gemacht werden. Im Falle einer Bewerbung oder eines beruflichen Aufstiegs beginnt die Frist mit dem Zugang der Ablehnung. Zusätzlich gilt für die Klagefrist die Spezialvorschrift des § 61b ArbGG. Danach muss eine Klage auf Entschädigung nach § 15 AGG innerhalb von drei Monaten, nachdem der Anspruch schriftlich geltend gemacht worden ist, erhoben werden. Werden die vorgenannten Fristen nicht eingehalten, können Ansprüche auch nicht mehr geltend gemacht werden.

II. Notwendige Benachteiligung

Eine notwendige Benachteiligung liegt nach § 3 Abs. 1 S. 1 AGG schon dann vor, wenn eine Person wegen eines in § 9 AGG genannten Diskriminierungsgrundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation.

So wurde der Kläger nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Damit wurde er weniger günstig behandelt als die später eingestellte Mitbewerberin. Das BAG hat klargestellt, dass ein Nachteil im Rahmen einer Auswahlentscheidung dann vorliegt, wenn der Bewerber – wie hier der Kläger – nicht in die Auswahl einbezogen, sondern vorab ausgeschieden wird. Die Benachteiligung liegt bereits in der Versagung einer Chance.

Hinweis für die Praxis:

Wie sich aus § 15 Abs. 2 AGG ergibt, ist nicht maßgeblich, dass der Bewerber aufgrund des Benachteiligungsgrundes nicht eingestellt worden ist. Auch dann, wenn der Bewerber selbst bei diskriminierungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre, ist ein Anspruch nicht ausgeschlossen, sondern nur der Höhe nach auf drei Gehälter begrenzt.

III. Benachteiligung wegen seiner Behinderung

Schließlich ist für einen Entschädigungsanspruch erforderlich, dass der Kläger wegen seiner Behinderung benachteiligt worden ist. Diese Voraussetzungen werden von der Rechtsprechung nunmehr sehr schnell bejaht. Der Kausalzusammenhang zwischen nachteiliger Behandlung und Behinderung ist bereits dann gegeben, wenn die Benachteiligung an die Behinderung anknüpft oder durch sie motiviert ist. Dabei ist es nach der Rechtsprechung nicht erforderlich, dass der betreffende Grund das ausschließliche Motiv für das Handeln des Benachteiligenden ist. Ausreichend ist vielmehr, dass die Behinderung Bestandteil eines Motivbündels ist, welches die Entscheidung beeinflusst hat.

Hinweis für die Praxis:

Das AGG hat in § 22 eine Beweislastregelung getroffen, die sich auf die Darlegungslast auswirkt. Es reicht aus, wenn der Beschäftigte bzw. Bewerber Indizien vorträgt, die seine Benachteiligung wegen eines verbotenen Merkmals vermuten lassen. Liegt dann eine Vermutung für die Benachteiligung vor, trägt nach § 22 AGG die andere Partei (der Arbeitgeber) die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat.

IV. Indizien für eine Benachteiligung

Die Indizien, die eine solche Umkehr der Beweislast begründen können, sind vielfältig. Dies kann z.B. eine Stellenanzeige sein, die nicht diskriminierungsfrei ausformuliert ist. Möglich ist auch, dass ein Bewerber gezielt im Vorstellungsgespräch nach einer Schwerbehinderung gefragt wird, was bekanntlich unzulässig ist.

1. Kenntnis der Schwerbehinderung notwendig!

Bei einem öffentlichen Arbeitgeber greifen die besonderen Pflichten nach § 82 SGB IX. Danach besteht eine Einladungspflicht für den öffentlichen Arbeitgeber zu einem Vorstellungsgespräch.

Dem Arbeitgeber muss aber für eine Einladungspflicht nach § 82 S. 2 SGB IX die Schwerbehinderteneigenschaft oder die Gleichstellung des Bewerbers bekannt gewesen sein. Oder er muss sich aufgrund der Bewerbungsunterlagen jedenfalls diese Kenntnis einfach hätte verschaffen können. Andernfalls kann der Pflichtenverstoß, der objektiv vorliegt, dem Arbeitgeber nicht zugerechnet werden. Konnte der Arbeitgeber nicht erkennen, dass ihn eine entsprechende Pflicht trifft, kann ihm hieraus auch kein zurechenbarer Vorwurf gemacht werden.

So lag der Fall hier, denn der Kläger hatte im Anschreiben lediglich auf eine Behinderunghingewiesen. Der Arbeitgeber hatte keinerlei Veranlassung, von einer bestehenden Schwerbehinderung mit einem GdB von mindestens 50 auszugehen. Die fehlende Einladung des öffentlichen Arbeitgebers zum Vorstellungsgespräch begründete daher in diesem speziellen Fall kein Indiz. Es bestand auch keine Pflicht des Arbeitgebers, sich nach einer Schwerbehinderteneigenschaft zu erkundigen. Der Nachweis der Schwerbehinderteneigenschaft wäre nur dann entbehrlich gewesen, wenn die Schwerbehinderung offenkundig gewesen wäre, was hier nicht der Fall war.

2. Prüf- und Meldepflichten

Ein Indiz kann auch dann bejaht werden, wenn der Arbeitgeber seinen Prüf- und Meldepflichten nach § 81 Abs. 1 S. 1 und 2 SGB IX nicht nachkommt. Danach besteht eine Prüfpflicht des Arbeitgebers, ob freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen, insbesondere mit bei der Agentur für Arbeit arbeitslos oder arbeitssuchend gemeldeten schwerbehinderten Menschen besetzt werden können. Dazu müssen Arbeitgeber frühzeitig Verbindung mit der Agentur für Arbeitaufnehmen.

Anders als bei der Einladungspflicht nach § 82 SGB IX hat das BAG bei der Prüfpflicht zu § 81 Abs. 1 S. 1 und 2 SGB IX die fehlende Kenntnis von der Schwerbehinderung nicht berücksichtigt. Mit ihrem Verhalten hätte die Gemeinde den Anschein erweckt, nicht nur an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen uninteressiert zu sein, sondern auch möglichen Vermittlungsvorschlägen und Bewerbungen von arbeitsuchenden schwerbehinderten Menschen aus dem Weg gehen zu wollen. Das Merkmal der Behinderung sei daher Teil des Motivbündels gewesen, dies sei ausreichend.

Hinweis für die Praxis:

Die vorgenannten möglichen Indizien, die für eine Anwendung der Beweislastregel des § 22 AGG in Betracht kommen, machen deutlich, dass im Rahmen eines Bewerbungsverfahrens zahlreiche Fehler gemacht werden können. Arbeitgeber sind daher gut beraten, sich mit den Voraussetzungen und Pflichten des SGB IX im Einzelnen vertraut zu machen und im Bewerbungsverfahren nur mit entsprechend geschultem Personal aufzutreten.

V. Missbrauchseinwand

Entschädigungsansprüche sind ausnahmsweise unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs nach § 242 BGB (Treu und Glauben) ausgeschlossen. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn die Bewerbung alleine deshalb erfolgte, um Entschädigungsansprüche zu erlangen. Für diese fehlende subjektive Ernsthaftigkeit ist der Arbeitgeber darlegungs- und beweisbelastet. So kann z.B. ein krasses Missverhältnis zwischen Anforderungsprofil der zu vergebenden Stelle und der Qualifikation des Bewerbers die Ernsthaftigkeit der Bewerbung in Frage stellen. Auch eine Vielzahl von Entschädigungsklagen kann diese Ernsthaftigkeit ausschließen.

Im vorliegenden Fall hatte das BAG aber hieran keine Zweifel. Die Vielzahl der Bewerbungen spreche vielmehr für die Ernsthaftigkeit der Bewerbungen. Indizien für eine fehlende subjektive Ernsthaftigkeit wurde daher verneint.

Autor

Bild von Prof. Dr. Nicolai Besgen
Partner
Prof. Dr. Nicolai Besgen
  • Rechtsanwalt
  • Fachanwalt für Arbeitsrecht

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