16.10.2024 -
Das BAG hat klargestellt, dass bei einem Betriebsübergang die in einer transformierten Betriebsvereinbarung vereinbarte Nachwirkung auch beim Betriebserwerber zum Tragen kommen.
Wirkt eine ursprüngliche betriebliche Übung nach dem Betriebsübergang auf den Erwerber? (credits: adobestock)

Im Falle eines Betriebsübergangs werden die Inhaltsnormen einer Betriebsvereinbarung nach § 613a Abs. 1 S. 2 BGB in die Arbeitsverhältnisse der übergegangenen Arbeitnehmer transformiert, wenn die Betriebsidentität nicht erhalten bleibt. Dadurch werden die transformierten Normen aber nicht Bestandteil der arbeitsvertraglichen Vereinbarungen zwischen dem vom Betriebsübergang erfassten Arbeitnehmer und dem Betriebserwerber, sondern ihr kollektivrechtlicher Charakter bleibt erhalten. Das Bundesarbeitsgericht hat in einer aktuellen Entscheidung dazu klargestellt, dass die in einer solchen transformierten Betriebsvereinbarung vereinbarte Nachwirkung auch beim Betriebserwerber zum Tragen kommt (Bundesarbeitsgericht v. 19.9.2023, 1 AZR 281/22). Die Entscheidung ist von praktischer Relevanz, denn sie macht einmal mehr deutlich, dass im Falle eines Betriebsübergangs die Lösung von bestehenden Verpflichtungen nur schwer möglich ist.

Der Fall (verkürzt):

Der Kläger war seit 1.1.1986 bereits bei dem Rechtsvorgänger des späteren Betriebserwerbers und jetzigen Beklagten, dem Rheinisch-Westfälischen Technischen Überwachungs-Verein e.V. (RW TÜV) beschäftigt. Beim RW TÜV galt schon seit 1979 eine als „Vereinsordnung“ bezeichnete Gesamtbetriebsvereinbarung. Diese gewährte Beilhilfen im Krankheitsfall für die im Arbeitsverhältnis befindlichen Arbeitnehmer. Zudem war eine Nachwirkung in der Gesamtbetriebsvereinbarung vereinbart.

Der Kläger erhielt von Beginn seines Arbeitsverhältnisses an die entsprechenden Beihilfen zu seinen Krankheitskosten. Die jetzige Beklagte und auch vorher der RW TÜV gewährte diese Leistungen auch den ausgeschiedenen Arbeitnehmern, soweit es sich um Betriebsrentner handelte.

Der Kläger schied dann zum 30.9.2017 aus dem Arbeitsverhältnis aus und erhielt Leistungen aus der betrieblichen Altersversorgung, war also Betriebsrentner. Ihm wurden daher auch weiterhin Beihilfeleistungen zu seinen Krankheitskosten nach Maßgabe der Gesamtbetriebsvereinbarung gewährt.

In der Folge wies die Beklagte jedoch jährlich darauf hin, dass es sich bei diesen Leistungen um freiwillige Leistungen handele, die ohne Anerkennung eines Rechtsanspruchs erbracht würden. Die Leistungen wurden dann im Jahre 2020 eingestellt. Die Gesamtbetriebsvereinbarung wurde im Jahre 2022 gekündigt.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, ihm stehe weiterhin ein Anspruch auf Beihilfen im Krankheitsfall nach Maßgabe der ursprünglichen und zwischenzeitlich gekündigten Gesamtbetriebsvereinbarung zu. Er hat sich dabei auf eine bestehende betriebliche Übung berufen.

Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben der Klage stattgegeben.

Die Entscheidung:

Im Revisionsverfahren hat das Bundesarbeitsgericht die Entscheidung der Vorinstanzen bestätigt und den Anspruch bejaht.

I. Anspruch aus betrieblicher Übung

Zunächst hat das Bundesarbeitsgericht geklärt, dass der Anspruch nicht unmittelbar auf der Gesamtbetriebsvereinbarung beruhte. Diese richtete sich nur an Arbeitnehmer während des laufenden Arbeitsverhältnisses. Der Geltungsbereich war nicht auf Betriebsrentner erstreckt.

Allerdings hatte der ursprüngliche Arbeitgeber, der RW TVÜV, die Leistungen auch stets an die Betriebsrentner gewährt. Dadurch ist eine dauerhafte betriebliche Übung entstanden. Diese bindende Wirkung der betrieblichen Übung tritt dabei auch gegenüber den Arbeitnehmern ein, die unter der Geltung dieser betrieblichen Übung im Betrieb gearbeitet, zunächst aber die Vergünstigungen noch nicht erhalten haben, weil sie die nach der Übung vorausgesetzten Bedingungen noch nicht erfüllten (hier Betriebsrentner).

Hinweis für die Praxis:

Eine betriebliche Übung geht auch im Falle des Betriebsübergangs auf den Betriebserwerber über. Der Betriebserwerber kann die Übung dann für die Zukunft einstellen und so die Ansprüche für neu eintretende Arbeitnehmer verhindern. Gegenüber den bestehenden bzw. übergegangenen Arbeitsverhältnissen kann eine betriebliche Übung aber nicht rückwirkend beendet werden.

II. Keine gegenläufige betriebliche Übung

Der Arbeitgeber hatte sich dann weiter darauf berufen, die betriebliche Übung sei durch die Freiwilligkeitsvorbehalte beendet worden. Diese Beendigung treffe dann auch die bestehenden Arbeitsverhältnisse.

Diese Möglichkeit besteht aber generell nicht. Eine einmal entstandene betriebliche Übung kann nur für die Zukunft und für neu eintretende Arbeitnehmer beendet werden. Das Bundesarbeitsgericht hat die Möglichkeit einer gegenläufigen betrieblichen Übung schon im Jahre 2009 für beendet erklärt. Zudem werden selbst nach der ursprünglichen alten Rechtsprechung vor 2009 hier die Voraussetzungen nicht eingehalten.

III. Kündigung der Gesamtbetriebsvereinbarung und Nachwirkung

Der Arbeitgeber hatte sich schließlich darauf berufen, Ansprüche könnten auch deshalb nicht mehr entstehen, da die Gesamtbetriebsvereinbarung wirksam gekündigt worden sei. Würde daher der Grundanspruch auf Beihilfen im Krankheitsfall schon nicht mehr für die Arbeitnehmer im bestehenden Arbeitsverhältnis gelten können, würden erstrecht die Rentner nicht mehr begünstigt werden können.

Das Bundesarbeitsgericht hat auch diese Argumentation abgelehnt. Zwar kann eine Betriebsvereinbarung gekündigt werden. Die Ansprüche entfallen dann aber endgültig nur dann, wenn keine Nachwirkung eintritt. Im vorliegenden Fall handelt es sich zwar um freiwillige Leistungen bei den Beihilfen. Betriebsvereinbarungen über freiwillige Leistungen wirken grundsätzlich nicht nach, da sie nicht erzwingbar sind. Allerdings hatten die Betriebspartner hier freiwillig eine Nachwirkung in der Gesamtbetriebsvereinbarung vereinbart. Damit haben die Betriebsparteien die gleiche Rechtslage geschaffen, die im Bereich der erzwingbaren Mitbestimmung ausdrücklich vorgesehen ist. Eine derartige Vereinbarung über eine freiwillige Nachwirkung ist regelmäßig dahingehend auszulegen, dass ihr eine Konfliktlösungsmöglichkeit innewohnt, die der gesetzlichen im Fall der erzwingbaren Mitbestimmung entspricht. Damit kann im Falle der gescheiterten Verhandlungen auch in solchen freiwilligen Fällen die Einigungsstelle angerufen werden, die dann verbindlich entscheiden kann.

Der vorliegende Fall war insoweit besonders, als die ursprüngliche Gesamtbetriebsvereinbarung im Wege des Betriebsübergangs auf den Betriebserwerber nach § 613 Abs. 1 S. 2 BGB transformiert wurde. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts behalten aber dennoch die von einem Betriebsübergang betroffenen transformierten betrieblichen Regelungen einer Betriebsvereinbarung weiterhin ihren kollektivrechtlichen Charakter. Damit kann der Betriebserwerber die transformierten Normen gegenüber dem zuständigen Gremium der Arbeitnehmervertretung kündigen. Die Kündigung wirkt aber wegen ihres kollektivrechtlichen Charakters so weiter, wie sie im Falle eines normativen Fortbestandes im Erwerberbetrieb gegolten hätte. Haben daher die Betriebspartner eine Betriebsvereinbarung mit Nachwirkung vereinbart, tritt die Nachwirkung auch bei der Transformation nach § 613a Abs. 1 S. 2 BGB ein.

Hinweis für die Praxis:

Mit anderen Worten: Die Kündigung der Gesamtbetriebsvereinbarung wirkte sich hier nicht benachteiligend für den Betriebsrentner aus, da mit der Kündigung dann Nachwirkung eintrat und weiterhin die Ansprüche bestanden.

Fazit:

Eine betriebliche Übung geht auf den Betriebserwerber im Falle eines Betriebsübergangs über. Der Betriebserwerber kann dann nicht durch Freiwilligkeitsvorbehalte oder eine gegenläufige betriebliche Übung diese bereits entstandenen Ansprüche rückgängig machen oder verhindern. Beruhen die Ansprüche sogar zum Teil auf einer freiwilligen Betriebsvereinbarung und hatten die Betriebspartner trotz der Freiwilligkeit Nachwirkung vereinbart, kann auch eine kollektivrechtliche Kündigung der transformierten Normen nicht zu einem Untergang des Anspruchs führen. Die Entscheidung macht einmal mehr deutlich, dass die Gewährung von freiwilligen Leistungen genau in ihren rechtlichen Ausführungen bedacht werden muss. Zugeständnisse in Betriebsvereinbarungen über eine Nachwirkung können zu einer dauerhaften Bindung führen. Gleiches gilt für die vorbehaltlose Gewährung von freiwilligen Leistungen, da dadurch eine betriebliche Übung entstehen kann. Nur sichere Rechtskenntnisse können bei der Vertragsgestaltung solche Rechtsfolgen ausschließen.


Autor: Prof. Dr. Nicolai Besgen

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