Eine der hoffnungsvollsten Neuerungen des zwischenzeitlich nicht mehr wirklich neuen Vertragsarztrechts (VÄndG) betrifft die Möglichkeit, auch an anderen Orten als dem eigentlichen Vertragszahnarztsitz, also überörtlich, tätig zu sein. Geschieht dies nicht im Rahmen einer überörtlichen Berufsausübungsgemeinschaft, handelt es sich um eine „Zweigpraxis“. Den großen Erwartungen, die der Zweigpraxis entgegengebracht wurden, folgte schnell eine gewisse Ernüchterung. Bekanntlich ist Voraussetzung, dass die Zweigpraxis die Versorgung an ihrem Standort „verbessert“. So offen der Begriff des „Verbesserns“ ist, so restriktiv hat sich die Auslegung durch die Zulassungsgremien entwickelt. Jedenfalls im „überversorgten Gebiet“ stehen die Genehmigungschancen schlecht.
Mit ganz neuen Fragen im Zusammenhang mit überörtlicher Tätigkeit hat sich das Landessozialgericht Schleswig-Holstein in einer Entscheidung vom 10.07.2008 auseinandergesetzt (Az. L 4 B 405/08 KA ER). Auch wenn die Entscheidung zunächst für den betroffenen Zahnarzt negativ ausging, enthalten die Ausführungen des Gerichts durchaus positive Erwägungen zugunsten der Zahnärzteschaft. Da es sich um eine Entscheidung im einstweiligen Rechtschutz handelte, der noch eine Entscheidung im sog. Hauptsacheverfahren nachfolgt, ist hier das letzte Wort noch nicht gesprochen. Keineswegs ist es also zwingend und auf Dauer so, wie die Tagepresse vermeldete, wonach ein MKG-Chirurg aus Thüringen auf Sylt keine „Nebenpraxis“ betreiben dürfe.
Was war geschehen?
Ein MKG-Chirurg, gemeinsam mit seiner Ehefrau (Kieferorthopädin) in Berufsausübungsgemeinschaft in Thüringen tätig, hatte die Genehmigung einer Zweigpraxis auf Sylt (KZV Bezirk Schleswig-Holstein) beantragt. Dort gedachte er maximal drei Tage im Monat tätig zu sein.
Seine „Heimat KZV“ hatte sich bereits im Rahmen der Anhörung durch die zuständige KZV Schleswig-Holstein äußerst ablehnend geäußert, gleichwohl genehmigte der Zulassungsausschuss die Zweigpraxis. Nach dem die KZV Thüringen Widerspruch eingelegt hatte, hob der zuständige Berufungsausschuss den Beschluss auf und lehnte die Genehmigung der Zweigpraxis ab. Im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes bliebt der Zahnarzt sowohl vor dem Sozial- wie auch dem Landessozialgericht erfolglos.
Ob dies die Zweigpraxis auf Sylt aber auf Dauer vereiteln wird, darf mit Recht bezweifelt werden. Denn argumentativ betrachtet war die Gerichtsentscheidung durchaus „knapp“. Der Zahnarzt scheiterte letztlich primär an Besonderheiten des vorläufigen Rechtsschutzes. Im eigentlichen Hauptssacheverfahren, in dem sorgfältiger ermittelt und geprüft werden kann, können diese Hürden aber durchaus überwunden werden.
Hingegen äußerte sich das Landessozialgericht zu den Gründen der Gegenseite durchaus kritisch.
Die KZV Thüringen hatte die sog. Residenzpflicht ins Spiel gebracht und betont, die Entfernung zwischen Thüringen und Sylt sei mit 650 km zu groß. Gem. § 24 der Zulassungsverordnung müsse ein Vertragszahnarzt seinen Wohnsitz so wählen, dass er für die Versorgung an seinem Vertragsarztsitz zur Verfügung stehe. Er müsse seine Praxis von seiner Wohnung aus in angemessener Zeit erreichen können. Dies sei hier nicht der Fall.
Das Landessozialgericht hat diese Frage nicht abschließend bewertet, bring aber zahlreiche Aspekte in die Diskussion, die dafür sprechen, dass die Vorschriften der Residenzpflicht für die Genehmigung einer Zweigpraxis gar nicht zu berücksichtigen sind.
Voraussetzung für die Genehmigung der Zweigpraxis sei nach dem Wortlaut der Zulassungsverordnung zunächst nur zweierlei: Die ordnungsgemäße Versorgung am „Hauptsitz“ (hier also in Thüringen) müsse weiterhin gewährleistet sein und die Versorgung am neuen Standort (hier: Sylt) müsse verbessert werden. Die Residenzpflicht hingegen sei systematisch an anderer Stelle geregelt und werde von den Regelungen zur Zweigpraxis nicht mehr wiederholt. Die Gewährleistung der Versorgung am Hauptstandort sei aber im Bundesmantelvertrag konkreter gefasst worden: Es genüge, wenn die „Nebentätigkeit“ ein Drittel der Tätigkeit am Hauptsitz nicht übersteige. Auch hier: kein Wort von der Residenzpflicht.
Weitere räumliche Aspekte habe der Gesetzgeber auch an anderer Stelle nicht eingeführt. Auch der Umstand, dass eine Zweigpraxis im Bezirk einer anderen KZV möglich sei, spreche gegen eine räumliche Einschränkung. Denn es dürfte die Regel sein, dass die Entfernungen hier größer würden als die üblichen 30 – 45 Minuten, die zur Einhaltung der Residenzpflicht zumeist gefordert würden.
Zudem sei durch das neue Vertragsarztrecht auch die Möglichkeit der Anstellung von (Zahn)ärzten gestärkt worden, was für eine Einschränkung der Residenzpflicht spräche.
Im Übrigen habe der Zahnarzt im konkreten Fall ja auch gar nicht vor, täglich zwischen Haupt- und Zweigpraxis zu pendeln, da es nur um maximal drei Tage im Monat ginge. Unter diesen Umständen sei die Residenzpflicht eventuell gar nicht das entscheidende Thema. Und die Präsenzpflicht (zumindest 2/3 der Tätigkeit am Hauptsitz) sei ja erfüllt.
Woran scheiterte die Sache für den Zahnarzt dann überhaupt? Nach Auffassung des Gerichts waren noch zu viele Fragen offen. So z.B. wie der Zahnarzt die Nachsorge für Patienten zu organisieren gedenkt, die kurz vor seiner Abreise an den jeweils anderen Standort noch operiert werden. Hier könne z.B. eine Lösung über einen angestellten Zahnarzt gesucht werden. Auch zur Verbesserung der Versorgung auf Sylt wollte das Gericht noch näheres erfahren, wenngleich der Thüringer Zahnarzt unstreitig der einzige MKG-Chirurg auf Sylt wäre.
Schließlich vertrat das Gericht den Standpunkt, dem Zahnarzt sei es zuzumuten, das Ergebnis eines „normalen“ Gerichtsverfahrens abzuwarten, so eilig sei die Sache nicht.
Ergo:Eine hochinteressante Entscheidung, die trotz der „Phyrrusniederlage“ für den Zahnarzt Hoffnung macht. Am Ende des Hauptsacheverfahrens kann durchaus die Feststellung stehen, dass die „Residenzpflicht“ einer Zweigpraxis in großer Entfernung vom Hauptsitz der Praxis bei entsprechend guter Organisation nicht im Wege steht. Die besseren Argumente sprechen für in jedem Fall für eine solche Sichtweise.
von RA Wolf Constantin Bartha, Fachanwalt für Medizinrecht, Rechtsanwälte MEYER-KÖRING, Schumannstraße 18, 10117 Berlin, www.meyer-koering.de
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